Wenn das Fühlen zu viel war. Wie die Psyche schützt – und wie wir lernen, wieder zu spüren

Wenn das Fühlen zu viel war, schützt uns die Psyche. Dieser Schutz verdient Respekt. Gefühle sind essenziell für unser Menschsein. Sie zeigen uns, was wir brauchen, was uns wichtig ist, was verletzt oder nährt. Doch was passiert, wenn das Fühlen selbst zur Bedrohung wird? Viele Menschen, die belastende oder traumatische Erfahrungen gemacht haben, kennen das: Gefühle wie Angst, Trauer oder Schmerz fühlen sich nicht nur unangenehm, sondern überwältigend, ja sogar gefährlich an. Die Psyche schützt sich mit Rückzug, Abspaltung oder Funktionieren. Ein Schutzmechanismus, der überlebenswichtig war und lange Zeit hilfreich blieb.Doch: Dieser Schutz hat seinen Preis.

Schutz durch Vermeidung und seine Folgen

Wenn wir unsere Gefühle dauerhaft wegdrücken, verlieren wir nicht nur den Schmerz, sondern auch die Freude, Lebendigkeit, Verbindung. Wir spüren weniger Angst, ja aber auch weniger Liebe, Neugier, Lust. Das Leben wird eng, grau, leer.Vermeidung schützt, aber sie begrenzt. Viele Menschen beschreiben ein Leben „wie hinter Glas“, „wie abgeschnitten von sich selbst“. Das ist kein Versagen, sondern ein Zeichen dafür, dass etwas in ihnen gelernt hat: Fühlen ist zu gefährlich.

Warum die Psyche das tut

Die Psyche ist unglaublich intelligent. Sie speichert: Wie überlebe ich das? Wenn eine Situation emotional überwältigend ist, etwa ein Verlust, eine Ablehnung, eine existenzielle Bedrohung, schaltet das Nervensystem in den Überlebensmodus: Kampf, Flucht, Erstarrung. Was zu viel ist, wird abgespalten. Das ist kein Defekt, das ist Schutz. Doch was schützt, kann später zur Barriere werden. Denn Heilung geschieht nicht im Abgetrenntsein, sondern im Wieder-in-Verbindung-Kommen – mit sich, mit den eigenen Gefühlen, mit dem Körper, mit dem Leben.

Wie kann Heilung beginnen?

Heilung beginnt nicht damit, sich sofort allem Schmerz zu stellen. Sondern damit, langsam wieder zu lernen zu spüren in einem sicheren Rahmen, im eigenen Tempo.

In der Traumatherapie sprechen wir von „Titration“: Gefühle dosiert zulassen, Stück für Stück, ohne überwältigt zu werden. Es braucht Sicherheit, Achtsamkeit und Begleitung. Dann kann das, was lange weggeschoben wurde, gesehen und integriert werden.

Erste Schritte zurück ins Fühlen:

  • Körperwahrnehmung stärken
    Wo spüre ich heute etwas? Wärme, Kälte, Spannung? Nur beobachten – nichts verändern.

  • Nicht bewerten
    Gefühle sind weder gut noch schlecht. Sie sind. Punkt.

  • Kleine Portionen zulassen
    Statt: „Ich muss das alles fühlen“„Ich spüre heute einen Moment lang Trauer. Das reicht.“

  • Sich selbst beruhigen lernen
    Atemübungen, Selbstberührung, ein innerer Anker: Alles, was das Nervensystem reguliert, hilft beim Fühlen.

  • Unterstützung suchen
    In Therapie oder einem geschützten Gruppenraum lässt sich der Weg zurück ins Spüren sicherer gehen.

Fühlen heißt: Ich bin lebendig

Fühlen ist nicht immer angenehm, aber es ist lebendig. Erst wenn wir wieder Kontakt zu unseren Emotionen bekommen, kehrt die Lebendigkeit zurück. Dann können wir nicht nur Schmerz integrieren, sondern auch Freude, Leichtigkeit und Liebe wieder erfahren. Wir müssen nicht alles auf einmal spüren. Aber wir könnten damit langsam beginnen.

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