Innere Zerrissenheit: Ein leiser Schmerz zwischen damals & heute
Wenn Menschen sich innerlich zerrissen fühlen, ist es als ob zwei gegensätzliche Kräfte in ihnen wirken: der Wunsch nach Heilung und die Angst vor dem, was auf dem Weg dorthin ans Licht kommen könnte. Diese innere Zerrissenheit ist nicht selten ein Symptom tiefer seelischer Verletzungen, ein Echo vergangener Traumata.
Trauma ist mehr als nur ein schlimmes Erlebnis. Es ist das, was im Inneren eines Menschen geschieht, wenn etwas zu schnell, zu viel oder zu plötzlich passiert und der Körper und die Psyche keinen sicheren Raum finden, um es zu verarbeiten. Die Folge ist ein anhaltender Zustand der Alarmbereitschaft, ein verzerrtes Selbstbild, und oft das Gefühl, gleichzeitig zu viel und zu wenig zu sein.
Was bedeutet „innere Zerrissenheit“?
Psychologisch beschreibt „innere Zerrissenheit“ einen Zustand innerer Ambivalenz oder gespaltener Selbstanteile. Man will handeln, aber fühlt sich gelähmt. Man sehnt sich nach Nähe, aber fürchtet sich davor. Man strebt nach Selbstbestimmung, aber fühlt sich fremdbestimmt. Solche inneren Widersprüche entstehen häufig, wenn grundlegende Bedürfniss, wie Sicherheit, Bindung oder Autonomie, in der Vergangenheit verletzt wurden.
Die moderne Psychotraumatologie (z. B. die Arbeiten von Bessel van der Kolk, Janina Fisher oder Peter Levine) zeigt, dass unser Gehirn in traumatischen Situationen Schutzstrategien entwickelt, die später zur inneren Zerrissenheit beitragen können: Dissoziation, Selbstabwertung, Überanpassung oder auch aggressive Impulse gegenüber dem eigenen Ich.
Der Körper erinnert sich, auch wenn der Verstand es vergisst
Traumata sind nicht nur psychisch gespeichert. Sie leben auch im Körper weiter: in der Muskelspannung, im Atemmuster, im autonomen Nervensystem. Der Körper „erinnert“ sich an Bedrohung, auch wenn der Verstand längst zur Rationalisierung übergegangen ist. Deshalb kann es sein, dass scheinbar harmlose Situationen plötzliche emotionale Überflutungen oder Rückzug auslösen, ohne dass man den Zusammenhang erkennt.
Viele meiner Klient*innen berichten davon, „zwei Menschen in einem“ zu sein: Ein Teil funktioniert im Alltag leistungsfähig, angepasst, freundlich. Der andere Teil ist verletzlich, ängstlich, wütend, voller Scham. Diese Anteile gegeneinander auszuspielen, ist ein natürlicher, aber letztlich schmerzhafter Versuch, mit der Zerrissenheit umzugehen.
Der Weg zur Integration: Die Zerrissenheit verstehen lernen
Heilung beginnt dort, wo wir aufhören, gegen uns selbst zu kämpfen. Innere Zerrissenheit ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Hinweis darauf, dass das Nervensystem in der Vergangenheit zu viel aushalten musste und Schutzprogramme aktiv geblieben sind.
Wissenschaftlich fundierte Wege zur Heilung können sein:
Traumatherapie: Methoden wie EMDR, Somatic Experiencing, IFS (Internal Family Systems) oder körperorientierte Psychotherapie helfen, traumatische Erfahrungen sicher zu verarbeiten und Selbstanteile zu integrieren.
Polyvagal-Theorie (Stephen Porges): Sie erklärt, wie unser Nervensystem zwischen Überlebensreaktionen (Kampf, Flucht, Erstarrung) und sozialer Verbundenheit wechselt – und wie wir wieder in einen regulierten Zustand finden können.
Selbstmitgefühl (Kristin Neff): Achtsamkeit und liebevolle Zuwendung zu sich selbst helfen, aus der inneren Selbstkritik auszusteigen und emotionale Balance zu fördern.
Körperarbeit: Yoga, Atemtherapie, achtsame Bewegung oder Tanztherapie unterstützen den Zugang zu unterdrückten Gefühlen und fördern Selbstregulation.
Es braucht Geduld und Mitgefühl
Innere Zerrissenheit ist keine Krankheit, sondern eine Antwort auf Verletzung. Linderung ist möglich, aber sie geschieht nicht über Nacht. Sie braucht sichere Beziehungen, geduldige Begleitung und die Erlaubnis, all das zu fühlen, was einst keinen Raum hatte.
Wenn Sie sich innerlich zerrissen fühlen, sind Sie nicht allein. Es gibt Worte für das, was Sie fühlen. Und es gibt Wege, die zurück zu Ihnen führen.
Literaturtipps:
Bessel van der Kolk: Das Trauma in dir: Wie der Körper den Schrecken festhält und wie wir heilen können
Janina Fisher: Heilung des traumatisierten Selbst
Peter Levine: Sprache ohne Worte
Kristin Neff: Selbstmitgefühl