Selbstfürsorge ist nicht Verwöhnung, sondern Verbindung.

In einer Welt, die oft laut, schnell und fordernd ist, klingen „Selbstfürsorge“ und “Me-time”, wie ein sanftes Versprechen. Selbstfürsorge wird oft mit Schaumbädern, Wellness-Tagen oder Schokolade auf dem Sofa gleichgesetzt. Doch das ist nur ein kleiner, oft oberflächlicher Teil. Gerade für Menschen mit belastenden Erfahrungen ist Selbstfürsorge nichts Leichtes, nichts Romantisches und schon gar kein Luxus.

Wahre Selbstfürsorge beginnt viel tiefer. Sie meint die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse überhaupt wieder wahrzunehmen. Zu spüren, wann etwas zu viel ist. Sich Pausen zuzugestehen, Grenzen zu setzen, freundlich mit sich zu sein. Das hat nichts mit Egoismus zu tun, sondern mit Genesung.

Was bedeutet Selbstfürsorge wirklich?

Aus psychologischer Sicht meint Selbstfürsorge die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, sie ernst zu nehmen und dementsprechend zu handeln. Dazu gehören körperliche, emotionale, soziale und geistige Bedürfnisse gleichermaßen.

Im traumasensiblen Kontext heißt Selbstfürsorge vor allem:

  • Sich selbst nicht länger übergehen

  • Dem Körper wieder Vertrauen lernen

  • Sicherheit schaffen, innen wie außen

  • Mitgefühl für sich selbst entwickeln, gerade in schwierigen Momenten

Warum Selbstfürsorge bei Trauma so schwierig ist

1. Frühe Prägungen

Viele traumatisierte Menschen haben in ihrer Kindheit gelernt, dass ihre Bedürfnisse „zu viel“, „falsch“ oder „nicht wichtig“ sind. Sie haben sich angepasst, überangepasst, funktionieren gelernt. Selbstfürsorge fühlt sich dann fremd oder egoistisch an oder macht sogar Angst.

2. Dissoziation & Körperferne

Trauma führt oft zu einem Gefühl der Entfremdung vom eigenen Körper. Man spürt Hunger nicht, Kälte nicht, Müdigkeit nicht oder zu spät. Selbstfürsorge setzt aber Körperwahrnehmung voraus. Diese muss oft behutsam wiedererlernt werden.

3. Scham & Schuldgefühle

„Ich habe das nicht verdient“, „Andere brauchen es dringender“ diese inneren Stimmen sabotieren Selbstfürsorge. Dabei zeigt die moderne Psychotraumatologie (z. B. Bessel van der Kolk, Janina Fisher): Scham ist eine der tiefsten Narben des Traumas und Mitgefühl mit sich selbst eines der kraftvollsten Gegenmittel.

Warum Selbstfürsorge wirkt

Aus psychotraumatologischer Sicht ist Selbstfürsorge nicht nur ein nettes Extra, sondern eine direkte Intervention auf neuronaler Ebene. Die moderne Forschung zeigt: Wenn wir achtsam, mitfühlend und körperorientiert für uns sorgen, wirkt das regulierend auf unser gesamtes System.

Die Polyvagal-Theorie des Neurowissenschaftlers Stephen Porges erklärt, wie eng unser autonomes Nervensystem mit dem Erleben von Sicherheit verbunden ist. Nach einem Trauma verbleibt das Nervensystem oft in einem Zustand chronischer Übererregung oder Erstarrung. Selbstfürsorgliche Handlungen, wie bewusste Atmung, sanfte Bewegung oder soziale Verbindung, können dabei helfen, das System aus dem Alarmzustand zu lösen und wieder in den Modus von Ruhe und Verbundenheit zurückzufinden.

Auch der Forschungszweig des Selbstmitgefühls (besonders durch Kristin Neff und Christopher Germer geprägt) zeigt deutlich: Menschen, die lernen, sich selbst in schwierigen Momenten mit Mitgefühl statt mit Kritik zu begegnen, entwickeln mehr Resilienz, weniger Angst und Depression und einen liebevolleren Umgang mit sich selbst. Gerade bei emotional erschütterten Menschen kann Selbstmitgefühl ein heilsamer Gegenspieler zu innerer Scham, Härte oder Selbstverleugnung sein.

Die Embodiment-Forschung wiederum belegt, wie stark unser Denken, Fühlen und Handeln vom Körper beeinflusst wird und umgekehrt. Selbstfürsorge, die den Körper mit einbezieht, wirkt dadurch besonders nachhaltig. Ob durch achtsame Bewegungen, eine bewusste Haltung oder gezielte Berührung: Der Körper wird so wieder zur Ressource, nicht bloß zum Ort der Erinnerung.

Was kann Selbstfürsorge sein?

Selbstfürsorge ist nicht immer schön, bequem oder rosa. Manchmal ist sie:

  • rechtzeitig ins Bett gehen, statt sich abzulenken

  • Nein sagen, auch wenn es anderen nicht gefällt

  • sanft bewegen, wenn alles innerlich stockt

  • sich selbst halten, wenn niemand da ist

  • den Kaffee stehen lassen, wenn das Nervensystem überreizt ist

  • eine Pause machen, auch wenn man denkt, man müsste durchhalten

„Was brauche ich jetzt – wirklich?“ Diese Frage kann ein Kompass sein.

Traumasensible Selbstfürsorge: klein, leise, aber konsequent

Selbstfürsorge muss nicht groß sein. Sie beginnt im Kleinen:

  • Bewusst ein Glas Wasser trinken

  • Die Schultern lockern

  • Einen sicheren Ort im Raum oder im Inneren spüren

  • Sich selbst für einen Moment liebevoll anschauen, ohne Bewertung

Selbstfürsorge bedeutet nicht, sich immer gut zu fühlen. Sie bedeutet, freundlich mit sich zu bleiben, auch wenn es gerade schwer ist.

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Innere Zerrissenheit: Ein leiser Schmerz zwischen damals & heute

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